Bürgergeld verfassungsrechtlich zu niedrig

Unter verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten ist Hartz IV, das jetzt Bürgergeld heißt, zu niedrig, zu diesem Schluss kommen die Juristinnen Sarah Lincoln von der Gesellschaft für Freiheitsrechte und Ulrike Müller in einem Artikel auf dem Verfassungsblog.
Würden weniger Verfassungsfeinde den politischen und medialen Diskurs bestimmen, müsste es also eigentlich klar sein, dass das Bürgergeld nicht gekürzt, sondern ganz dringend erhöht werden muss.
„Ein […] Bürgergeld muss […] ausreichend sein, um materielle und soziale Ernährungsarmut zu vermeiden. Die aktuellen […] Beträge entsprechen allerdings nicht diesem Anspruch“ schreibt der wissenschaftliche Beirat beim Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft.
Lincoln und Müller erklären, dass der geltende Statistik-Warenkorb nicht mehr verfassungsgemäß sei. „Die Berechnung des Existenzminimums ist seit 2010 fast unverändert. Auch die Bürgergeld-Reform hat es nicht berührt, sondern nur die jährliche Fortschreibung verändert – wobei wegen der Preissteigerungen der letzten Jahre die Kaufkraft im Ergebnis nicht stieg. Die Ausgangswerte basieren nicht – wie oft behauptet – auf einem reinen Statistikmodell, sondern auf einem „Statistik-Warenkorb“ (…) Im ersten – statistischen – Rechenschritt werden die Konsumausgaben der einkommensärmsten 15 % der Haushalte (für Kinder: 20 %) anhand der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe berechnet. Daraus werden im zweiten Rechenschritt wie aus einem Warenkorb zahlreiche Positionen herausgestrichen, die als nicht regelbedarfsrelevant eingestuft werden. Unter anderem zählen dazu Tierfutter, Zimmerpflanzen, Adventskränze und jegliche Gaststättenbesuche.“ Lincoln und Müller erklären, dass der Warenkorb zur Berechnung des Bedarfssatzes nur eine Richtung kennt: Es werden Dinge herausgenommen, die als angeblich nicht existenznotwendig betrachtet werden. „Umgekehrt könnten auch Ausgaben erhöht werden, weil sie normativ für notwendig erachtet werden. Das findet aber nicht statt.“
2014 kam das Bundesverfassungsgericht zum erstaunlichen Ergebnis, dass das berechnete Existenzminimum nicht evident zu niedrig sei. Damals befand das Gericht auch das Berechnungsverfahren für „derzeit noch“ verfassungsgemäß. Dem Ernährungsanteil kommt beim Bürgergeld bei der Prüfung, ob die Höhe zulässig ist, eine besondere Bedeutung zu, da er ein Drittel des gesamten Regelbedarfs ausmacht.
2010 verwies das höchste deutsche Gericht auf eine Untersuchung des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge, wonach der Regelbedarf die Ernährung eines Alleinstehenden mit Vollkost decken könne. „Neue ernährungswissenschaftliche Befunde widerlegen diese Annahme“, so Lincoln und Müller. So gut wie alle Studien, die der wissenschaftliche Dienst des Bundestags aufbereitet hat, stellen fest, dass eine gesunde Ernährung mehr kostet, als bei der Regelbedarfsberechnung für Nahrungsmittel berücksichtigt wird. Bei Kindern und Jugendlichen, erklärt eine Studie aus 2021, könnte eine Ernährung von den Beträgen, die bei der Regelbedarfsberechnung zugrunde gelegt wurden, zu Wachstumsverzögerungen und einer eingeschränkten kognitiven Entwicklung führen. Eine weitere Studie kommt zum Ergebnis, dass „der Ernährungsanteil für alleinlebende Erwachsene selbst dann nicht für eine gesunde Ernährung genügt, wenn von mehreren gesunden Ernährungsweisen die günstigste (im Ergebnis: die vegetarische) betrachtet wird.“ Die Regelbedarfe, erklären Lincoln und Müller, werden „anhand einer relativ armen Referenzgruppe berechnet. Dabei wird unterstellt, dass die Ausgaben von Menschen im unteren Einkommenssegment zwar bescheiden ausfallen, aber trotzdem für ein menschenwürdiges Existenzminimum genügen. Im Bereich der Ernährung bestehen aber ernsthafte Zweifel an dieser Annahme.“ Haushalte in der Referenzgruppe nutzen z.B. Tafeln, was nicht herausgerechnet wird. In der Konsequenz müsste der Bund entweder dafür sorgen, dass Warenkorb zur Berechnung des Existenzminimums einer größeren, also weniger armen Gruppe berechnet wird oder der Statistik-Warenkorb müsste relevant aufgefüllt werden. Fest steht also: Für das Recht auf eine gesunde Ernährung und auch, um das Existenzminimum verfassungskonform zu berechnen, bräuchte es nicht zuletzt aufgrund der Inflation, die besonders Nahrungsmittel trifft, eine signifikante Erhöhung des Bürgergelds.