Wohnen als soziale Infrastruktur

Wohnen als soziale InfrastrukturHistorische Beispiele zeigen, dass wir alle günstig und komfortabel leben könnten – wenn das Wohnen als soziale Infrastruktur organisiert wird, erklärt der Stadtsoziologe Andrej Holm in einem Text in der Analyse und Kritik, den wir hier auszugsweise übernehmen.

Neuer Termin: Andrej Holm: Wohnen im Kapitalismus – Sa. 13.01. 19 Uhr, Uni Freiburg KG I DGB Haus (Friedrichstr. 41-43)

Vielen Beteiligten ist längst klar, dass technokratische Reformen und reformistischen Forderungen zu kurz greifen, um die strukturell angelegten Widersprüche einer marktförmig organisierten Wohnversorgung zu lösen. Die Wohnforscher David Madden und Peter Marcuse haben das grundsätzliche Dilemma in ihrem internationalen Rückblick auf 100 Jahre Wohnungspolitik gut auf den Punkt gebracht, wenn sie von einer »dauerhaften Spannung zwischen dem Wohnen als Zuhause und dem Wohnen als Immobilie« sprechen.
Unter den Bedingungen einer kapitalistischen Urbanisierung werden Wohnungen zur Ware und entsprechend nach den kalkulatorischen Prinzipien des Marktes bewirtschaftet. Selbst dort, wo Vermieter*innen keine Höchstgewinne anstreben, übersteigen die erwarteten Durchschnittserträge die Zahlungsfähigkeit der meisten Wohnungssuchenden. Einen Ausstieg aus dem Dilemma bietet eigentlich nur ein Wohnungsbau, der nicht auf eine Refinanzierung durch die Mieten angewiesen ist.

Die Marktlogik außer Kraft setzen

Eine Entkopplung der Mietpreise von den Erstellungskosten klingt jedoch völlig utopisch, weil wir seit Dekaden daran gewöhnt werden, die kalkulatorische Logik des Marktes als treibendes Prinzip des Wohnungsbaus zu akzeptieren. Dabei gibt es in anderen Bereichen des staatlichen und kommunalen Handelns zahlreiche Beispiele für die Bereitstellung von sozialen Infrastrukturen, bei denen diese Logik außer Kraft gesetzt wird. So wäre beispielsweise die Erwartung völlig absurd, dass die Erstellungskosten für ein öffentliches Bibliotheksgebäude aus den Ausleihgebühren der Nutzer*innen bezahlt werden müssten. Eine konsequente Dekommodifizierung des Wohnens würde darin bestehen, das Wohnen als soziale Infrastruktur zu organisieren. Wie andere Infrastrukturen auch würden Wohnungen durch öffentliche Investitionen finanziert und in öffentlicher Trägerschaft verwaltet werden und müssten grundsätzlich allen Bevölkerungsgruppen zu günstigen Kosten zur Verfügung stehen. Einrichtungen und Dienstleistungen die als soziale Infrastrukturen bereitgestellt werden, fungieren nicht länger als Ware und können den Marktmechanismen entzogen werden.
Ein kommunaler Wohnungsbau jenseits der Marktlogik klingt auf den ersten Blick völlig weltfremd und wird gerne als utopische Spinnerei und unrealistisches Wunschdenken abgetan. Doch historische Beispiele aus Europa zeigen, dass staatliche Investitionen in ein öffentliches Wohnungswesen mit politisch festgesetzten Mieten in der Vergangenheit zum Standard einer sozialen Wohnungspolitik gehörten und europaweit Millionen von Mietwohnungen als öffentliche Infrastrukturen errichtet wurden.
Das bekannteste Beispiel für einen kommunalen Wohnungsbau mit Infrastrukturcharakter ist sicher der Gemeindebau der 1920er Jahre im »Roten Wien«. Zwischen 1919 und 1934 wurden über 60.000 Mietwohnungen durch die Gemeinde Wien errichtet. Als eine Antwort auf die katastrophalen
Wohnverhältnisse nach dem 1. Weltkrieg verfügte die sozialdemokratische Regierung der Stadt nicht nur einen strengen Mieter*innenschutz, sondern führte auch eine Reihe von Steuern auf den Kauf von Luxusgütern und auf Gewinne aus überhöhten Mieten ein. Insbesondere die neu erhobenen
Wohnbausteuern wurden zur Finanzierung des Gemeindebaus eingesetzt. Es können leistbare Wohnungen für breite Schichten der Bevölkerung gebaut werden, wenn sie wie soziale Infrastrukturen öffentlich bereitgestellt werden. Wie bei anderen Infrastrukturen auch bemisst sich der Wert öffentlicher Investitionsprogramme gerade nicht aus kurzfristigen finanziellen Gewinnen, sondern aus dem langfristigen Nutzen für die Allgemeinheit. Gerade weil privat finanzierte Bauprojekte und auch die marktförmig kalkulierten Neubauten von Genossenschaften unter den aktuellen Bedingungen keinen Beitrag für die soziale Wohnversorgung leisten können, ist auch im Bereich des Wohnens vor allem eines gefragt: öffentliche Verantwortung für die gesellschaftlichen Belange.